Triggerwarnung: Dieser Artikel bearbeitet Themen rund um Suizidgedanken. Das kann auf manche Menschen beunruhigend wirken oder eigene Selbstmordgedanken anregen. Wenn du dich damit unwohl fühlst, lies den Artikel nicht und suche dir gegenebenfalls Unterstützung zum Beispiel beim Sorgentelefon.
In 2021 trafen mich drei heftige Erkenntnisse (und schickten mich für Monate in das, was oft als "Dunkle Nacht der Seele" bezeichnet wird):
1) Niemand kann mich retten. Nur ich. Meine Haltlosigkeit, meine innere Zerissenheit, meine Angst vorm Leben - das alles ist mein Problem allein. Kein Hobby, kein Job, keine Beziehung und keine Therapie dieser Welt können diese Gefühle von mir nehmen. (Und ja - wir haben das alle schon hunderte Male gehört, ich auch. Aber verstanden, so richtig emotional durchdrungen, habe ich es erst jetzt. Hast du schon?).
2) Ich bin völlig überfordert mit der Aufgabe. Nachdem ich verstanden habe, dass niemand mich retten wird, scheinen alle Gefühle und Gedanken der letzten 30 Jahre gleichzeitig von mir wahrgenommen werden zu wollen: Ich fühle mich unendlich einsam, alles an mir scheint mir falsch, ich fühle mich haltlos und orientierungslos und ich habe keine Hoffnung. Wie soll ich so weiter leben? Und ICH soll mich da heraus retten?
3) Ich bin die ungeeignetste Rettungs-Person, die mir für mich einfällt. Was die Ursache meiner Schwierigkeiten ist, macht mich doch völlig ungeeignet als Retterin: Ich habe als Kind nicht erfahren, wie es sich anfühlt, unterstützt, geschützt und angenommen zu sein, egal was ist. Ich hatte kein stabiles Zuhause und nicht erlebt, wie sich sichere, von emotionaler Verfügbarkeit geprägte Beziehungen anfühlen. Aus diesem unsicheren, haltlosen Kind ist eine unsichere, haltlose Erwachsene geworden. Eine Erwachsene, die eigentlich Liebe, Annahme, Schutz, Inspiration und Lebendigkeit in jemandem finden müsste. Und dieser jemand soll jetzt ich sein? Ich, die ich gar nicht gelernt habe zu lieben, anzunehmen, zu schützen, zu inspieren und zu beleben? Da beißt sich doch die Katze in den Schwanz. Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Absoluter Tiefpunkt im Leben.
Ich fühlte mich elend. Jeder einzelne Tag bedeutete für mich, mit diesem Fehler, als den ich mich empfand, aufzuwachen. Mich von Aufstehen bis Schlafengehen wie ein Versehen der Evolution zu fühlen. Die unendliche Einsamkeit in mir zu erleben und vor Angst und Verzweiflung kaum vor die Tür zu können. Und nur ich soll mich retten können? Kann ich lang warten.
Ich konnte die Verzweiflung in mir fast nicht ertragen. Darum lehnte ich sie mit jeder Faser meines Seins ab. Ich wollte so nicht leben, ich wollte dieses Leben so einfach nicht mehr leben. Und mit diesen Gedanken ans Nicht-Leben-Wollen ließ ich mich im Stich.
So wachte ich wochen-, monatelang jeden Morgen auf wie in "Und täglich grüßt das Murmeltier": Jeden Tag wieder der gleiche Schmerz, die bodenlose Einsamkeit, die Hoffnungslosigkeit, die Lebensmüdigkeit.
Eine scheinbar endlose Wiederholung der immer gleichen inneren Zerbrochenheit.
Ich litt jeden einzelnen Tag und ich verabscheute mich dafür. Ich hasste mich. Ich hasste, dass ich nichts erreicht hatte im Leben. Ich hasste, dass alle meine Anstrengungen zu heilen und glücklich zu werden gefühlt ins Nichts gelaufen waren. Niemals in meinem Leben war es so dunkel wie in diesen Wochen. Ich gab die eine große Hoffnung auf, die mich bis dahin seit Jahren getragen hatte: Dass es irgendwann gut sein würde. Dass ich irgendwann gesund und glücklich sein würde.
Ich kapitulierte in die Gewissheit hinein, dass es nicht in meiner Macht stand, meine eigene Geschichte ungeschehen zu machen und plötzlich eine andere zu sein, als die, die ich war.
Und das war keinesfalls ein friedvolles Gefühl. Ich verabscheute es, ich zu sein. Und trotzdem lage diese Wahrheit zum ersten Mal spürbar und in aller Klarheit vor mir: Diese Nathalie existiert nun mal. Sie lebt und sie fühlt. Wie fehlerhaft und erbärmlich mir diese Person und dieses Leben auch vorkommen mögen, sie SIND DA und ich kann mir keine anderen herbeihoffen. Ein hoffnungsloser Fall bin ich zwar, aber eben noch mit einigen Jahren Lebenszeit vor mir. Wenn ich all diese Jahre mit dem Elend, das ich war, verbringen muss, dann sorge ich doch wenigstens dafür, dass ich in Sicherheit und gut versorgt leiden kann. Ich eröffnete quasi einen emotionalen Gnadenhof für mich.
Und das was der unglaubliche Wert meiner persönlichen dunklen Nacht der Seele: Ich kam erstmalig in Kontakt mit einer Instanz in mir, die annehmen kann, was eben gerade ist. Wie entstellt und schmerzhaft es auch sein mag. Eine Instanz, die mitfühlt und fürsorglich ist. Genau die Instanz, die ich so sehr brauchte und brauche. Ich entdeckte: Selbstakzeptanz!
Ich war trotzdem verzweifelt, ich mochte mich trotzdem nicht, ich wollte trotzdem dieses Leben nicht führen. Und ich hatte nur noch so wenig Kraft.
Und doch veränderten sich Kleinigkeiten durch diese neue Instanz in mir:
"Du magst doch Körner!? Backen wir welche ins Brot."
"Guck dir mal ein lustiges Video auf YouTube an. Brauchst nicht lachen. Aber dann hast du mal was Schönes gesehen."
"Kerze anzünden beim Essen?"
"Ich mach dir eine Wärmflasche."
Die neue Instanz hat nicht erwartet, dass irgendeine der kleinen Aktionen meine Stimmung hebt. Die Hoffnung hatte ich aufgegeben. Die Instanz in mir wollte einfach gnädig sein mit dieser erbarmungswürdigen Gestalt, die ich war.
Dieser neue Anteil in mir wusste anfangs nicht allzu viel zu tun. Ich kannte diese Nathalie kaum. Was sie mag und was ihr gut tut. Aber diese Instanz, also eigentlich - ICH - wir taten, was wir konnten.
Ja, ich bemühte mich ehrlich um mich. Und zum ersten Mal bemühte ich mich nicht darum, ein besserer (= gesund und glücklich) Mensch zu werden. Ich bemühte mich darum, mich gut in meinem Leid zu begleiten.
Ich hatte mich im Stich gelassen, als ich dieser Mensch nicht sein und dieses Leben nicht leben wollte - und durch die aufkeimende Selbstakzeptanz, Mitgefühl für mich und das, was ich erlebte, kam ich nun in kleinen Schritten zu mir zurück.
Seitdem ist ungefähr ein Jahr vergangen. Alles ist inzwischen etwas besser geworden. Etwas. Dass ich nicht mehr permanent sterben möchte, ist vielleicht das stärkste Signal meiner Genesung. Trotzdem fühle ich mich wie ein Küken, das zu früh aus dem Nest gestoßen wurde. Ich habe nach wie vor oft keinen blassen Schimmer, was ich für mich tun kann und oft genug habe ich auch eigentlich keine Lust, schon wieder die zu sein, die sich um mich kümmert. Und dann bin ich sehr überfordert mit mir.
Aber ich bemühe mich um mich. Mit der Erfahrung des letzten Jahres ist eine neue Hoffnung in mir entstanden: Dass ich reinwachsen kann in die Verantwortung für mich. Vielleicht kann ich diese Instanz in mir, die annimmt, schätzt, unterstützt und mich versorgt, weiter kultivieren.
Vielleicht kann ich dieser Mensch für mich werden, den ich so sehr brauche. Eine Erwachsene, die fähig ist, zu lieben, anzunehmen, zu schützen, zu inspieren und zu beleben. Eine Erwachsene, die mir ein inneres Zuhause gibt. Danke an die dunkle Nacht der Seele, die mir geholfen hat, den Kampf gegen mich selbst aufzugeben und mich gelehrt hat, mich selbst zu akzeptieren.
Die "Dunkle Nacht der Seele" ist ein metaphorischer Ausdruck, der eine spirituelle Krise oder Phase der inneren Transformation beschreibt. In dieser Zeit fühlen sich Menschen oft einsam, unsicher, orientierungslos und mit existentiellen Fragen konfrontiert.
Es ist möglich, sich selbst aus einer "Dunklen Nacht der Seele" zu befreien, aber es kann auch hilfreich sein, professionelle Unterstützung von Therapeut:innen oder anderen Expert:innen in Anspruch zu nehmen.
Die "Dunkle Nacht der Seele" kann eine Chance für persönliches Wachstum und Veränderung sein, da wir in dieser Zeit eine intensive innere Reflexion durchlaufen und uns mit existentiellen Fragen auseinandersetzen. Wir sind damit konfrontiert, unsere eigenen Werten, Bedürfnissen und Zielen zu hinterfragen und zu sortieren. Daraus entstehen tiefere Einsichten ins uns selbst und unser Verhältnis zum Leben. Wir können während eines Tiefpunkts im Leben mit unserer eigenen, manchmal tief verschütteten Stärke in Kontakt kommen, können Bewältigungsstrategien und neue Perspektiven entwickeln. Am Ende gehen wir mit einer gestärkten Verbindung zu uns selbst und unseren Mitmenschen aus der "Dunklen Nacht der Seele" hervor.
Einen solchen Tiefpunkt im Leben zu erleben, kann eine überwältigende Erfahrung sein. Was mir geholfen hat, wenn ich mich sehr überfordert gefühlt habe:
1) Ruhe bewahren: Ja, es ist eine unheimlich intensive, anstrengende, beängstigende Zeit. Aber alle Gefühle und Phasen haben die Tendenz, sich zu verändern. Auch das hier wird vorbeigehen. Ich darf mich dabei liebevoll begleiten.
2) Unterstützung annehmen: Mit Freund:innen über Gedanken und Gefühle reden, therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Ich kann zwar nichts tun, um diesen Zustand abzukürzen, ich muss durch die Krise durch. Aber ich kann mich dabei immer wieder (verbal, emotional) in den Arm nehmen lassen und dabei durchtatmen.
3) Einen guten Rahmen schaffen: Ich kann nichts tun, um diesen furchtbaren Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Ich muss da durch. Dann biete ich meinem Körper und Geist wenigstens einen sicheren Rahmen dafür. Ich kann mich gesund ernähren, ich kann Yoga praktizieren, meditieren und einen einigermaßen ausgewogenen Schlafrhythmus anstreben. Ich kann Content vermeiden, der mich ängstigt oder verstört. Ich kann Menschen meiden, die mich ängstigen. Ich darf es mir leicht machen.
4) Langsamkeit erlauben: Natürlich wäre es schön, wenn alles ginge wie vorher. Und wenn dieser Krise schnell vorüber wäre. Aber darauf habe ich keinen Einfluss. Das Gras wächst nicht schneller, wenn ich daran ziehe. Es dauert jetzt so lang, wie es dauert. Ich darf mir Zeit nehmen.
Insgesamt war wichtig für mich, mich immer wieder daran zu erinnern, dass dieser Tiefpunkt im Leben eine vorübergehende Erfahrung ist, die sich zwar sehr bedrohlich anfühlt, aber letzlich nicht mein Leben gefährdet und dass meine wichtigste Aufgabe darin ist, mich liebevoll im Rahmen meiner Möglichkeiten zu begleiten.
Ich möchte Wege aufzeigen, wie wir eine besondere Beziehung zu uns selbst aufbauen und pflegen können.
Hier gibt es psychologische Selbsthilfe: Ganzheitlich und praktisch!
Dafür teile ich mit dir meine Erfahrungen und meine Entwicklung, die ich durch Psychotherapie, systemische Ansätze, Lesen, Zuhören, Reflektieren und Machen durchlaufen habe. Bei Fragen kannst du mich unter mail@innerekinder.de erreichen.
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